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HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE

Inhalt:

Kurzweilige dreieinhalb Stunden begleitet die bereits mehrfach ausgezeichnete Doku „Herr Bachmann und seine Klasse“ einen Lehrer und seine Klasse durch ihren ungewöhnlichen Schulalltag. Ausgangspunkt des Films seien „die ergebnisoffene Beobachtung und die vorurteilsfreie Begegnung“ mit den Schülerinnen und Schülern gewesen, sagt Regisseurin Maria Speth – damit ist ihr ein Meisterwerk gelungen.

Eine Kleinstadt mitten in Deutschland: Als die Schülerinnen und Schüler der 6B der Georg-Büchner-Gesamtschule im Klassenzimmer ankommen, graut vor den Fenstern gerade erst der Morgen. Am Lehrertisch wartet Herr Bachmann, in AC/DC-T-Shirt und mit schwarzer Strickmütze auf dem Kopf. „Seid ihr müde?“, fragt er, als alle sitzen. „Ja“, murmeln vereinzelte verschlafene Stimmen. „Gut, dann tauchen wir alle nochmal für zwei, drei Minuten ab.“ Die Kinder schließen die Augen, beugen sich über die Tische und vergraben die Köpfe zwischen den Armen.

Mutige 217 Minuten dauert die Doku, in der Herr Bachmann und seine Klasse ein halbes Jahr lang begleitet werden. Wen der Gedanke an über dreieinhalb Stunden im Kinosaal nicht abschreckt, wird mit einem berührenden und kurzweiligen Film belohnt, der nichts weniger ist als eine Liebeserklärung an die Menschlichkeit – und an eine Schule, wie sie sein könnte, gäbe es mehr Lehrende wie Herrn Bachmann und ein System, das sie einfach machen lässt.

Das Klassenzimmer wirkt wie das Wohnzimmer einer humorvollen, liebevollen Familie: Herr Bachmann spielt Gitarre, eine Schülerin singt dazu, eine andere schenkt sich ein Glas Cay ein, ein Schüler jongliert mit Bällen, ein paar stecken ihre Nasen in Bücher. Einer sagt, er sei krank und legt sich auf ein aus Paletten zusammengezimmertes Bett. Herr Bachmann setzt sich dazu und beginnt mit ihm zu plaudern. Schlagzeuge, Gitarren, Notenständer und E-Bässe sind im ganzen Raum verteilt. Der Soundtrack der 6B reicht von den Dire Straits, Bob Dylan und Gianna Nannini bis zu „Hejo, spann den Wagen an“ und „Bella ciao“.

Zwischen zwölf und 14 Jahre alt sind die Schülerinnen und Schüler. Sie bringen verschiedene Sprachen, Religionen und Kulturen ins Klassenzimmer. Manche sind in Deutschland geboren, andere erst seit einem halben Jahr im Land. Manche sprechen fließend Deutsch, andere lernen die Sprache gerade erst. Herkunftsländer und Erstsprachen werden von Herrn Bachmann nicht – wie sonst so oft – unsichtbar gemacht, sondern immer wieder ins Gespräch und in den Unterricht miteinbezogen. Und auch Musik dient als Lingua franca, die Gemeinschaft herstellt und oft auch Impulse für den Unterricht bringt.

Wie in jener Szene, in der Herr Bachmann ein Lied vorsingt, das von zwei Männern handelt, die sich ineinander verlieben. „Wer findet das schlimm, wenn zwei Jungen oder zwei Mädchen knutschen?“, fragt Herr Bachmann danach. Das sei „eklig“, „nicht normal“, sagen einige. Herr Bachmann lässt die Jugendlichen – wie immer – ihre Meinung sagen, aber lässt – wie immer – nicht locker, bis sie ihre Meinung auch begründen.

Auch nach mehrmaligem Nachfragen kann keiner der Jugendlichen erklären, warum er Homosexualität eigentlich „eklig“ findet. Die Diskussion endet schließlich, als ein Mädchen laut sagt: „Hauptsache, die lieben sich.“ Herr Bachmann verlangt von allen, erst wieder über das Thema zu sprechen, nachdem sie lange über diesen Satz nachgedacht haben.

Die kulturelle Zusammensetzung der 6B spiegelt die Bevölkerungsstruktur der kleinen Industriestadt Stadtallendorf in Hessen mit ihren riesigen Fabriken wider. Die Geschichte der Stadt ist seit Jahrzehnten von Migration geprägt – 70 Prozent der Bevölkerung haben eine Einwanderungsgeschichte.

Die Lebensverhältnisse der Schülerinnen und Schüler könne man als prekär bezeichnen, ihre Bildungs- und Aufstiegschancen als begrenzt, sagt Regisseurin Speth. Ausgangspunkt des Films seien aber nicht „Thesen über die bundesrepublikanische Realität als Einwanderungsland oder die Präsentation eines neuen Unterrichtsmodells, sondern die ergebnisoffene Beobachtung und die vorurteilsfreie Begegnung mit diesen Menschen“ gewesen.

Siebenmal waren die Regisseurin und ihr Kameramann Reinhold Vorschneider zwischen Jänner und Juni 2017 für eine Woche in der Klasse. Die Liebe zu den Kindern sei schon während der Dreharbeiten gekeimt und habe sich bei der Montage entfaltet, erzählt Speth. 200 Stunden Material kürzte sie auf dreieinhalb Stunden. „So wie Lehrer Bachmann diesen jungen Menschen im Klassenraum die Möglichkeit zur Entfaltung von Fähigkeiten, Schönheit und Würde gibt, wollte ich ihnen das in der Montage geben: Stars zu sein für 217 Minuten.“

Herr Bachmann lässt seine Schülerinnen und Schüler sein, wie sie sind, fordert sie aber auch heraus, sich zu hinterfragen. Mit ehrlichem Interesse unterstützt er sie dabei, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und gleichzeitig Empathiefähigkeit zu entwickeln. Und er achtet penibel darauf, dass niemand ausgegrenzt wird, dass die Kinder zusammenhalten, Verständnis füreinander zeigen und einander unterstützen. Der geborene Pädagoge also?

Die Schülerinnen und Schüler der Georg-Büchner-Gesamtschule hätten ihm unmissverständlich gezeigt, was für einen Lehrer sie haben wollen, sagt Dieter Bachmann: „Einen, der ihnen Äpfel und Müsli und Döner zu essen gibt, einen, der mit ihnen Fußball spielt, Musik macht und malt und Geschichten erfindet und schreibt, einen, der mit ihnen liest, wie die Welt so aussieht und was es zu entdecken gibt, einen, den sie fragen können, was immer sie wollen, aber vor allem einen, der sie nicht abwertet mit Noten und Defiziten.“

Die Schule als Institution habe ihn „von Anfang an befremdet, bis heute“, erzählt der Mitte 60-Jährige in einer Szene einem befreundeten Steinmetz, in dessen Werkstatt die Kinder selbst mit Hammer und Meißel an Skulpturen arbeiten können. Den Lehramtsabschluss habe er gemacht, weil er nicht wusste, was er mit seinem Soziologiestudium anfangen sollte. Lehrer sei er dann letztlich geworden, um Geld für seine Familie zu verdienen.

„Ich habe mich ziemlich lange dagegen gewehrt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich da nicht hochkant wieder rausfliege.“ Irgendwann habe es aber „Knack“ gemacht, irgendwann habe er gespürt, „dass die Dressur, die ich halt täglich auch machen muss, nur noch so zehn Prozent der Arbeit und der Rest schon irgendwie sinnvoll ist“.

Der Film „Herr Bachmann und seine Klasse“, der einen Silbernen Bären und den Publikumspreis bei der Berlinale gewann und als bester Dokumentarfilm beim Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde, zeigt, was humanistische Bildung, die das Individuum in den Vordergrund stellt und Potenziale statt Fehler sucht, bewirken kann. Und wie sehr eine einzelne engagierte Lehrperson das Leben von Kindern beeinflussen kann. Vielleicht hat Herr Bachmann die Kinder der 6B für ihr Leben geprägt, vielleicht auch nicht. Besser auf die Zukunft vorbereiten hätte er sie mit Sicherheit nicht können.

„Wir hatten eine gute Zeit in diesem Raum“, sagt ein Schüler am Tag der Zeugnisvergabe, der auch der letzte für die Klassengemeinschaft ist, und blickt sich wehmütig im leeren Klassenzimmer um: Die Musikinstrumente, die Bücher, das Bett – alles ist weg. „Diese Zeugnisse sind nur Momentaufnahmen. Diese Noten zeigen überhaupt nichts von euch. Viel wichtiger ist, dass ihr alle tolle Kinder, tolle Jugendliche seid“, ist Herr Bachmanns Schlusswort an seine Klasse, bevor es ans Verabschieden geht: „Kommt, wir machen Rudeldrücken.“

(aus „ORF – Viennale“)

 

Details:

Mit:  Dieter Bachmann, Aynur Bal, Önder Cavdar, Schüler*innen der Klasse 6 b, Schüler*innen der Klasse 6 f
Regie: Maria Speth
Genre: Dokumentation
Länge: 217 Min.
Alterszulassung: Ab 10 Jahre
Land: Deutschland
Erscheinungsjahr: 2021


Spielzeit: