Ein abgeschiedener Vierseitenhof in der Altmark. Die Wände atmen seit über einem Jahrhundert das Leben der Menschen, die hier wohnen, ihren Geschmack, ihr Sein in der Zeit. IN DIE SONNE SCHAUEN erzählt von vier Frauen aus unterschiedlichen Epochen – Alma (1910er), Erika (1940er), Angelika (1980er) und Nelly (2020er) – deren Leben auf unheimliche Weise miteinander verwoben sind. Jede von ihnen erlebt ihre Kindheit oder Jugend auf diesem Hof, doch während sie ihre eigene Gegenwart durchstreifen, offenbaren sich ihnen Spuren der Vergangenheit – unausgesprochene Ängste, verdrängte Traumata, verschüttete Geheimnisse. Alma entdeckt, dass sie nach ihrer verstorbenen Schwester benannt wurde und glaubt, dem gleichen Schicksal folgen zu müssen. Erika verliert sich in einer gefährlichen Faszination für ihren versehrten Onkel. Angelika balanciert zwischen Todessehnsucht und Lebensgier, gefangen in einem brüchigen Familiensystem. Nelly schließlich, die in scheinbarer Geborgenheit aufwächst, wird von intensiven Träumen und der unbewussten Last der Vergangenheit heimgesucht. Als sich ein tragisches Ereignis auf dem Hof wiederholt, geraten die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart ins Wanken.
Einen großen, epochalen Film hat Mascha Schilinski mit IN DIE SONNE SCHAUEN geschaffen, eine Grand Tour in die feinsten Verzweigungen der Gefühlswelten dieser vier Frauen. IN DIE SONNE SCHAUEN zielt dabei auch auf unsere Gegenwart und unser sich akut veränderndes Erleben von Geschichte und dem Epochenwandel. Ein Film, der sich tief in unsere Wahrnehmung bohrt und die Sensation dort inszeniert, wo das Empfinden am Flüchtigsten ist: im schnell verblassenden Gefühl von Zeit.
Die deutsche Kinosensation des Jahres verwebt vier Frauenleben im Laufe eines Jahrhunderts auf einem alten Bauernhof in Ostdeutschland
Schon im Vorfeld der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes hat man es Rumoren gehört. Da ist jemand Neues aus Deutschland. Eine junge Regisseurin, die bis dato nicht sonderlich aufgefallen war. Tricia Tuttle wollte ihren Film für ihre erste Berlinale, aber auch Thierry Frémaux aus Cannes hat die Fühler ausgestreckt – erfolgreich. Cannes ist schließlich der Platzhirsch unter den europäischen Filmfestivals.
Die geheimnisvolle Regisseurin heißt Mascha Schilinski. Geboren 1984 im Westen Berlins, das damals noch keine Hauptstadt und noch geteilt war. Ihre Mutter, Claudia Schilinski, war in der Filmbranche in vielen Funktionen tätig, 1980 spielte sie etwa in Helke Sanders feministischem Meilenstein Der subjektive Faktor mit. Der Vater war ein französischer Bauarbeiter und laut seiner Tochter der „heimliche Cineast“ der Familie.
Mascha Schilinksi stieg als junge Frau in die Film- und Unterhaltungsbranche ein. Als Casterin, als Feuerschluckerin in einem Wanderzirkus, später studierte sie Drehbuch und Regie in Baden-Württemberg. Ihr Abschlussfilm Die Katze handelte von einem Teenager, der der Mutter Schuldvorwürfe wegen der Trennung vom Vater macht. Aus demselben Stoff wob Schiliniski 2017 ihren ersten Langspielfilm Die Tochter mit Helena Zengel, die kurz darauf durch Systemsprenger zur international gefragten Nachwuchsschauspielerin werden sollte. Die Tochter lief auf der Berlinale und einigen anderen Festivals, blieb aber für das Gros der Kritik unter dem Radar.
Mascha Schilinksi kann man also getrost als neue Entdeckung feiern. Ihr zweiter Film In die Sonne schauen erfüllte denn auch die Erwartungen, die man in Cannes an einen großen, deutschen Film stellt und gewann dafür den Jurypreis. Über vier Jahrzehnte hinweg erzählt Schilinski von einem Vierkanthof in der Altmark und den darin lebenden Familien. Wieder liegt der Fokus auf Töchtern, die im Laufe der Zeit verschiedenste Formen von Gewalt, aber auch Emanzipationsschübe erleben. Es ist keine Ahnenreihe, die Schilinksi hier auffaltet. Der gemeinsame Nenner ist vielmehr der Ort des Geschehens.
Was war zuerst da? Das Haus, oder die Idee, etwas über diese Frauenfiguren im Verlauf der Zeit zu erzählen?“, lautete eine naheliegende Frage bei einem Gespräch mit der Regisseurin in Cannes. „Das Haus“, antwortet Schilinski unumwunden. „Meine Co-Autorin Louise Peter und ich haben einen Sommer zusammen auf diesem Hof in der Altmark verbracht, um an eigenen Projekten zu schreiben. Beim Prokrastinieren haben wir uns gemeinsam aber immer gefragt, was hier wohl passiert ist.“
Bei der Recherche stießen die beiden auf Kindheitsmemoiren, die eigentlich ein verlorenes Paradies betrauerten, und wie nebenbei Grausamkeiten miterzählten. „Etwa, dass die Mägde für die Männer ‚ungefährlich‘ gemacht werden mussten. Das hat uns die Schuhe ausgezogen und wir haben begonnen, uns für gerade diese Leerstellen, für Frauen, die oft nicht schreiben, nicht lesen konnten, zu interessieren.“
Einen weiteren Anstoß für die Geschichte gab eine Fotografie. „Von ungefähr 1929 muss die Aufnahme gewesen sein“, erzählt Schilinski, „sie wirkte wie ein Schnappschuss. Drei Frauen sind mitten im Tun und schauen direkt in die Kamera. Ihr Blick hat uns dazu inspiriert, uns Gedanken über die Gleichzeitigkeit von profanen und existenziellen Erfahrungen zu machen, und zu erforschen, was an diesem Ort war und was sein wird.“
In die Sonne schauen schöpft aus der viel beschworenen Kraft von Fotografien, zwischen Zeiten sowie zwischen Lebenden und Toten zu vermitteln. Das ist an den grobkörnigen, fließenden Filmbildern, die in den Zeitabschnitten zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, der DDR und dem Jetzt auch in Farbigkeit und Qualität variieren, zu erkennen. Und es ist Teil des Films selbst.
Besonders makaber kommen Fotografien im ersten Segment des Films zum Einsatz. Die strenge Großbäuerin (Susanne Wuest) platziert ihre verstorbenen Kinder auf dem Divan im Kreise der Familie, um sie ein letztes Mal dem Tod zu entreißen. „Post-Mortem-Fotografien waren eine große Inspiration und zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich“, sagt Schilinski, und verweist auf die Künstlerin Francesca Woodman. „Dieses Geisterhafte hat mich total fasziniert und es war mir wichtig, diesen schwebenden Zustand, in dem alle Figuren sich miteinander verbinden, herzustellen.“
Assoziativ und gespenstisch führt In die Sonne schauen durch die Geschichte eines Jahrhunderts und erzählt so von vier Töchtern aus verschiedenen Zeiten, und ganz nebenbei von einer konflikt- und gewaltreichen deutschen Geschichte. Die gängigen Prioritäten wurden von Schilinski umgedreht. Doch was verbindet diese Töchter abseits ihres Wohnortes miteinander? „Sie sind alle ihrer jeweiligen Zeit unterworfen. Sie versuchen, sie zu hinterfragen, und sich in irgendeiner Form zu befreien. Am meisten aber verbindet sie“, so Schilinski, „eine unbewusste Sehnsucht danach, einmal sich selber zu spüren, ohne dass es eine gemachte Welt gibt, die einem schon mitgegeben wird.“
(Valerie Dirk im Standard)
Schauspieler: Luise Heyer,
Regie: Mascha Schilinski
Genre: Drama
Dauer: 149 Min
Zulassung: ab 12 Jahre
Land: Deutschland
Erscheinungsdatum: 2025
Dienstag, 25. November 20.00 Uhr (Saal 2)
Montag, 1. Dezember 20.15 Uhr (Saal 2)
Dienstag, 2. Dezember 20.00 Uhr (Saal 2)