„Sirāt“ ist ein dystopisches Roadmovie von Óliver Laxe aus dem Jahr 2025, das einen Vater und seinen Sohn auf der Suche nach der vermissten Tochter/Schwester durch die marokkanische Wüste schickt. Der Film feierte seine Premiere bei den Filmfestspielen von Cannes, wo er den Preis der Jury gewann. Die Suche führt die Protagonisten zu einem Rave, der vom Militär geräumt wird, woraufhin sie sich einer Gruppe von Ravern anschließen, die sich weiter in die Wüste wagt. „Sirāt“ kombiniert Elemente eines Roadmovies mit einer spirituellen Reise und einer kritischen Auseinandersetzung mit der Rave-Kultur und den Schrecken der Gegenwart.
Schall braucht einen Widerstand, sonst verliert er sich im Ungefähren. Ein Rave in der Wüste wird dadurch aber nicht gleich zu einem Widerstandsnest, auch wenn nicht wenige in der Menge der tanzenden und stampfenden Menschen aussehen, als wären sie von Kriegen gezeichnet. Einem fehlt eine Hand, einem ein Bein, die anderen sind tätowiert und ausgemergelt, als kämen sie aus fünfzig Jahren Fremdenlegion.
Der Film Sirāt von Oliver Laxe beginnt damit, dass jemand in Marokko in der Wüste eine Wand aus Boxen aufbaut. Und dann kommt der Schall. Das Wummern. Das Brett. Die größten Junkies auf der „fiesta“ drängen sich ganz nahe an die Lautsprecher, als wollten sie sich den Kopf leerblasen lassen. Der Rest stakst irgendwie durch den Sand, eine Riesenschar von Weggetretenen. Das könnte jetzt auch zwei Stunden so weitergehen, dann wäre Sirāt ein merkwürdiger Dokumentarfilm über eine sehr spezielle Kultur. Dass man nach dem Simchat-Tora-Massaker unwillkürlich auch an den Rave an der Grenze zu Gaza denken muss, macht die Sache allerdings von Beginn an auch ein wenig unheimlich. Und als plötzlich Soldaten auftauchen, verwandelt sich Sirāt in einen Thriller, der dann fast zwei Stunden lang so etwas wie seine existenzielle Bestimmung sucht.
Ein Insert zu Beginn gibt eine Spur vor. Das arabische Wort sirāt bezeichnet im Islam einen Weg, der von der Hölle in den Himmel führt. Es liegt nahe, dass das kein bequemer Weg ist, den man mit Quadratlatschen bewältigen kann. Es ist ein messerscharfer Grat, von dem man jederzeit hinunter- und zurück in die Hölle fallen kann. Bei Regisseur Oliver Laxe spielen alle Länder, die zum Horizont von Sirāt gehören, auch biografisch eine Rolle: Marokko, Spanien und Frankreich.
Er gehört aber eindeutig zum europäischen Kino. Sirāt hatte dieses Jahr seine Premiere in Cannes. Seither zieht der Film eine Spur intensiver Reaktionen durch die Kinos, in denen er schon zu sehen war. Was der Schall mit den Körpern macht, das macht Laxe auf eine analoge Weise mit dem Publikum: Er nimmt es mit, und zwar so, dass man nicht einfach sagen kann: ohne mich. Auf einem messerscharfen Grat kann man auch schlecht umdrehen.
Der Vorwand einer Geschichte hat damit zu tun, dass ein Mann aus Spanien (Sergi López spielt Luis) mit seinem Sohn Esteban auf dem Rave auftaucht. Sie suchen eine junge Frau, die Tochter von Luis und die Schwester des kleinen Jungen. Sie ist vielleicht auf einer vergleichbaren Veranstaltung gewesen, vielleicht ist sie immer noch irgendwo, verloren in einem Dröhnen, in den Visionen nach einem Kaktusmahl. Verloren in einer anonymen Menge.
Laxe schafft es relativ umstandslos, diesen Luis mit einer Gruppe von Veteranen des Ravens zusammenzubringen, die sich dem Zugriff der Soldaten („Alles nur zur Ihrer Sicherheit!“) entziehen. Und so sind bald drei Fahrzeuge unterwegs durch die Wüste. Ein Kleinwagen, wie er zu Luis passt, und zwei abenteuerlich umgebaute Lastwagen, die wie Wohnmobile in einer Welt wirken, in der niemand jemals wieder eine Wohnung haben wird. Laxe weiß natürlich, dass viele Menschen bei diesen Bildern an die Mad Max-Mythologie denken werden. Und er spielt gekonnt damit: Eines der stärksten Bilder in Sirāt ist eines, in dem man einfach nur die kleine Kolonne durch den Staub brettern sieht, gejagt von den Bässen auf dem Soundtrack.
Auch dieser Moment könnte einfach ewig so weitergehen, aber Laxe spitzt sehr gekonnt immer weiter zu. Er braucht dafür nicht viel mehr als eine vage Hoffnung („irgendwo nahe Mauretanien“ soll es eine weitere Tanzveranstaltung geben) und eine Eskalation der psychedelischen Dynamik in die letzte Dimension von Religion. In dieser Dimension entscheidet ein Gottesurteil (in einer anderen Lesart: der härteste Zufall) über Leben und Tod, Himmel und Hölle. Wie Laxe das erzählerisch löst, ist in jeder Hinsicht brillant, mit zahlreichen Echos aus der Film- und Tripgeschichte. Mit einfachen Mitteln übertrifft Sirāt jeden Blockbuster und schafft einen der Hits dieses Kinojahrs.
(Bert Rebhandl, Der Standard)
Schauspieler: Sergi López, Bruno Núñez Arjona, Richard Bellamy und anderen
Regie: Óliver Laxe
Genre: Drama
Dauer: 120 Min
Zulassung: ab 12 Jahre
Land: Spanien, Frankreich
Erscheinungsdatum: 2025
Dienstag, 30. September 20.00 Uhr (Saal 2)